Hungerstreik Tag 19 – Kanzlerkandidat:innen verweigern weiter das Gespräch

Als eines der radikalsten Mittel des gewaltfreien Zivilen Ungehorsams ist der unbefristete Hungerstreik in den Augen vieler Menschen eine skandalöse Zumutung. Selbst engagierte Kämpfer:innen für den Klimaschutz schauen lieber angestrengt weg, wenn sie mit dem Hungerstreik der sechs Aktivist:innen in Berlin konfrontiert werden, die heute, am 17. September, den 19. Tag ohne Nahrung sind. Selbst gute politische Freunde sprechen von Erpressung und verteidigen die Haltung von Herrn Laschet, Herrn Scholz und Frau Baerbock, die das öffentliche Gespräch mit den Hungernden mit professioneller Kühle verweigern.

Warum ist das so? Warum können wir es so schlecht ertragen, wenn Menschen aus tiefster Verzweiflung über die Zerstörung unserer Lebenswelt und ihrer Zukunft die ehrliche Auseinandersetzung mit ihren berechtigten Forderungen verlangen und – nach dem Vorbild von Mahatma Gandhi – ihre eigene Gesundheit, wenn nicht sogar ihr eigenes Leben in die Waagschale werfen?


Im ersten Abwehrimpuls greifen viele zu dem Argument, Politik dürfe sich doch nicht erpressbar machen. Würde Frau Baerbock heute beim Hungerstreik für Klimagerechtigkeit nachgeben, hungere morgen gewiss jemand von der anderen Seite gegen das Asylrecht und dem müsste sie ja dann auch nachgeben. Jedoch – diese Gefahr ist gering. Menschen, die etwas fordern, was anderen schadet, setzen selten ihr eigenes Leben dafür ein – und schon gar nicht in der speziellen gewaltfreien Art, die uns eine direkte persönliche Reaktion abfordert. Und: Schauen wir doch einmal genau hin, was die Hungerstreikenden von Berlin fordern: Ein ernsthaftes, öffentliches Gespräch über das drängendste Problem der Menschheit, das Millionen junge Menschen fast genauso in Verzweiflung und Sorge treibt wie die Streikenden. In einer Situation, in der die Politik nachweislich versagt hat und immer noch versagt – schon bei der Problembeschreibung, aber erst recht bei der Lösung.

Gewaltfreier ziviler Ungehorsam „dramatisiert“ ein schweres Unrecht. Aber nicht, indem er ein künstliches Drama erzeugt, um das Unrecht größer erscheinen zu lassen als es in Wirklichkeit ist. Nein: Dadurch, dass gewaltfreie Kämpfer:innen den eigenen Preis für ihren Akt des Ungehorsams erhöhen – sei es eine Verhaftung nach einer symbolischen Besetzung, sei es der mögliche Gesundheitsschaden durch einen Hungerstreik – dadurch zwingen sie uns hinzuschauen und die tatsächliche Monstrosität des Unrechts zu erkennen. Ich glaube, genau davor haben wir Angst. Das ist der Grund, warum wir auch den Hungerstreik der sechs jungen Menschen in Berlin so schwer ertragen können.

Ja, es ist ein himmelschreiendes, ein monströses Unrecht, das wir dem Leben, das wir den künftigen Generationen angetan haben, indem wir ihre gute Zukunft auf dem Altar des vermeintlichen Wohlstands geopfert haben.

Lasst uns da hinschauen, auch wenn es unerträglich weh tut. Schauen auch Sie bitte da hin, Frau Baerbock, Herr Laschet und Herr Scholz. Und verweigern Sie nicht weiter die Forderung der Streikenden nach dem öffentlichen Gespräch am 23. September. Diese Menschen haben sich durch das Wissen, das sie sich angeeignet haben und durch das Opfer, das sie bringen, dafür qualifiziert, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen. Auch stellvertretend für viele Hunderttausende, die ebenso fühlen wie sie. Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit, hinter der das politische Kalkül hier zurückstehen muss.

Ingo Laubenthal, ParentsForFuture Karlsruhe, 17. September 2021